HANSJÖRG MARTIN

ÜBERFALL AM OKEECHOBEE

Ihm kam das Ganze wie ein Traum vor: Vor knapp 50 Stunden noch hatte er zu Hause auf seiner Couch in Baltimore gelegen und über seine Schulprobleme nachgedacht. Und nun stand er, mehr als 1000 Meilen weit weg von dem ganzen Kummer im Indianerhemd, war in einem Land, in dem seine Vorfahren seit Jahrtausenden lebten, und würde überhaupt ungeheure Abenteuer erleben.



Osceola, Häuptling der Seminolen 

Ein kurzer Jingel zu Beginn, schon ist der Hörer mittendrin in der Reise des vierzehnjährigen Osceolas zu den Seminolen-Indianern. Als Bote seines Volkes hat Osceolas Onkel Nick eine stundenlange Fahrt auf sich genommen, um eine wichtige Botschaft ins Land des Lärms zu überbringen. Schneller Pfeil aus der Sippe der Adler, Häuptling der Seminolen und Großvater von Osceolas Mutter Yellow Robe, ist krank. Seit zwei Mal der Mond voll wurde, liegt er nun schon in seinem Chickee unter den alten Zypressen am Ostufer des Okeechobee und spricht nicht mehr. Selbst Rollender Donner, der Medizinmann, kann ihm nicht helfen, denn der alte Krieger denkt bereits an die ewigen Jagdgründe. Bevor er dahin wandert, will Schneller Pfeil seine Enkeltochter und deren Sohn jedoch unbedingt noch einmal sehen. Und so kommt es, daß Osceola sich zusammen mit seiner Mutter und Onkel Nick am nächsten Tag auf den Weg in die Vergangenheit der Vorfahren macht.

Allen Anschein zum Trotz ist der Überall am Okeechobee alles andere als eine kurzweilige Indianergeschichte für Kinder. Vielmehr problematisiert die bereits 1972 im Rotfuchs-Verlag erschiene Romanvorlage von Hansjörg Martin im Innersten den grausamen und blutigen Freiheitskampf der Seminolen, für die die Reise des jungen "Ossi" als Rahmenhandlung dient. Wenn Osceolas Urgroßvater Schneller Pfeil von seiner eigenen Kindheit erzählt, als die weißen Männer versuchten, die Stammesgebiete zu erobern, wird die bis heute andauernde Auseinandersetzung zwischen der scheinbar so zivilisierten Welt der Großstädter und den im Einklang mit der Natur lebenden Rothäuten sichtbar.



Chickee der Seminolen - Indianer

Die Begegnung zwischen dem Kind der Stadt, wo das Wasser aus der Wand kommt und Blätter sprechen, sowie dem hundertjährigen Häuptling macht einen immerwährenden uralten Konflikt deutlich, der auf der Andersartigkeit der Kulturen und dem Besitzdenken der Menschen beruht.

Ohne Musikeinspielungen oder Hintergrundgeräusche, sondern allein mit der Stimme des 1990 verstorbenen Synchronsprechers Wolfgang Büttner lebt das ursprünglich aus verschiedenen Stämmen bestehende Mischvolk der Seminolen wieder auf. Die "Vertriebenen", so die Bedeutung der aus der Sprachfamilie der Muskhogee stammenden Bezeichnung, tummeln sich ebenso vor dem inneren Auge wie der sumpfartige Lebensraum, dem sich die Flüchtlinge nur mühsam anpassen konnten. Der Schein des idyllisch gezeichneten Covers trügt also: Obwohl der letzte Kampf zwischen Weißen und Seminolen am 19. Mai 1842 stattfand, ist dieser Indianerstamm der einzige, der nie mit der US-Regierung einen regulären Friedensvertrag abgeschlossen hat.


Lesung auf Audio-CD

Autor: Hansjörg Martin
Sprecher: Wolfgang Büttner

Petra



 

Hansjörg Martin (1920 - 1999) gilt nicht nur als einer der bedeutendsten Schriftsteller des deutschsprachigen Kriminalromans der Nachkriegszeit, sondern auch als Verfasser herausragender Jugendkrimis. 1986 erhielt Martin das Bundesverdienstkreuz als "Begründer des neuen deutschen Kriminalromans" sowie 1989 den Ehrenglauser für sein Gesamtwerk.
In Erinnerung an diesen Autor wird seit 2001 jährlich der Hansjörg Martin - Preis für den besten Kinder- oder Jugendkrimi vergeben.
 

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